Shou-Hui Chung: "Ich sehe mich als Taiwanerin"

Pfarrerin Shou-Hui Chung aus Taiwan ©Gerd Herzog

Shou-Hui Chung über ihre Heimat, ihre Erziehung und die christlichen Missionare

2020, mitten in der Pandemie, begann Pfarrerin Shou-Hui Chung ihren Dienst in Deutschland. Für die Presbyterian Church of Taiwan (PCT), Partnerkirche des Berliner Missionswerkes, betreut sie seitdem taiwanische Studierende. Und fühlt sich als Botschafterin ihres Landes. Von dem immer noch zu wenig bekannt sei, findet Shou-Hui Chung: "Der Weltgebetstag ist eine gute Gelegenheit, das zu ändern". Ein Gespräch mit Shou-Hui Chung über ihre Heimat Taiwan, ihre chinesische Erziehung und den prägenden Einfluß christlicher Missionare auf ihr Land.

INTERVIEW: GERD HERZOG


Was bedeutet es für Sie, dass Taiwan 2023 Partnerland ist?

SHOU-HUI CHUNG: Ich freue mich sehr auf den 3. März. Dieser Weltgebetstag bestätigt mir, dass Taiwan Teil der Welt ist. Christinnen und Christen auf der ganzen Welt beten für Taiwan – und werden mehr über Taiwan erfahren.

Die Welt weiß nicht genug über Taiwan?

SHOU-HUI CHUNG: Wenn ich sage, ich komme aus Taiwan, antworten viele Leute: »Oh, Thailand «. Dann sage ich: »Nein, Taiwan ist eine kleine Insel neben China.« »Sie sind also Chinesin? « Viele Leute denken, dass Taiwan ein Teil von China ist. Nach der Corona-Pandemie, ausgelöst durch so genannte »China-Virus«, haben die Leute versucht zu verstehen, dass Taiwan anders ist. Die Menschen begannen zu unterscheiden. Denn Taiwan hatte bereits 2002/03 Erfahrungen mit SARS gemacht und war bereit, seine Erfahrungen offen mit der Welt zu teilen.

Halten Sie sich selbst für eine Taiwanerin?

SHOU-HUI CHUNG: Ich sehe mich definitiv als eine Taiwanerin. Aber als Schülerin, von der Grundschule bis zur High School, dachte ich: Ich bin eine Chinesin. In der Schule hörten wir immer nur: Wir sind Chinesen und eines Tages gehen wir zurück nach China. Die ganze staatliche Erziehung drehte sich um China; wir lernten und sprachen nur Mandarin – auch zuhause.

Die Muttersprache Ihrer Eltern war Mandarin?

SHOU-HUI CHUNG: Nein, denn beide wurden in Taiwan geboren. Aber wir wurden bestraft, wenn wir in der Schule Taiwanisch sprachen. Unsere Eltern wollten uns helfen, gute Noten zu bekommen – und sprachen mit uns ebenfalls nur Mandarin. Mein Großvater väterlicherseits kam zwar aus China, aber er sprach nicht Mandarin, Han-Chinesisch, sondern Hakka. Die Indigenen wiederum – offiziell gibt es 16 Gruppen – sprechen ihre eigenen Sprachen. Mandarin ist bis heute Amtssprache, aber seit 2017 fördert die Regierung nun auch offiziell die indigenen Sprachen und Hakka. Sie ermutigt jeden und jede, seine und ihre Muttersprache zu sprechen. Schon 1993 hatte die Regierung ihre repressive Sprachenpolitik geändert und die Gleichbehandlung gesetzlich verankert. Die Mehrheit der Menschen in Taiwan spricht heute taiwanisch.

Wie ändert man seine Identität von einer Chinesin zu einer Taiwanerin?

SHOU-HUI CHUNG: Erst als ich die Mittelschule abgeschlossen hatte, las ich die Erinnerungen meines Großvaters. Er stammte aus Taiwan, wurde aber in Japan, der damaligen Kolonialmacht, ausgebildet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten er und seine Mitstreiter Taiwan unabhängig werden lassen. Die Kuomintang hat ihn dafür ins Gefängnis geworfen; dreimal, für insgesamt 27 Jahre. Erst als ich sein Buch las, wurde mir bewusst, dass Taiwan eine eigene Identität hat.

Welche Rolle spielt die Kuomintag?

SHOU-HUI CHUNG: Sie ist eine Partei vom chinesischen Festland, es gibt sie seit 1912, nach dem Bürgerkrieg gegen die Kommunisten unter Mao Tse-Tung musste sie auf die Insel Taiwan fliehen. Aber heutzutage kann die »Nationale Volkspartei Chinas« (so der Name der Kuomintamg auf Deutsch) Taiwan nicht mehr alleine vertreten. Heute gibt es auch andere Parteien.

In Taipeh steht eine imposante Halle zum Gedenken an Chiang Kai-shek, den Führer der Kuomintang und langjährigen Präsidenten Taiwans.

SHOU-HUI CHUNG: Wenn die Kuomintang diese Person feiern will, kann sie das für sich selbst tun. Aber bitte nicht für das gesamte taiwanische Volk. Letztes Jahr hat die Kuomintang in Großstädten viele Kommunalwahlen gewonnen und stellt die Bürgermeister. Aber die derzeitige Präsidentin Taiwans, Tsai Ingwen, kommt aus der Demokratischen Fortschrittspartei. Bis 2008 hatte die Kuomintang 60 Jahre lang das Präsidentenamt inne. Im Jahr 2000 gewann mit Chen Shui-bian zum ersten Mal ein Demokrat das Präsidentenamt. Und 2016, nach weiteren acht Jahren eines Kuomintang-Präsidenten, bekamen wir erstmals eine Präsidentin, Tsai Ing-wen. Die Kuomintang ist immer noch eine wichtige politische Kraft, aber nicht mehr die einzige. Taiwan ist eine Demokratie geworden. Taiwan ist immer noch ein junges Mitglied unter den Demokratien der Welt – aber wir versuchen unser Bestes. Vor allem junge Menschen spielen eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung.

Sprechen wir über Ihre Kirche, die Presbyterian Church in Taiwan. Sie war von Anfang an eine Stimme der marginalisierten Menschen, der indigenen Völker. Woher kam dieses Engagement?

SHOU-HUI CHUNG: Von den früheren Missionaren, die aus England, Schottland, den Vereinigten Staaten und Kanada kamen. Sie sahen Taiwan als ihr Land an – und sich selbst als Taiwaner. Sie lernten die Sprachen, teilten Gottes Liebe, bildeten Menschen aus, bauten ein medizinisches System auf, kümmerten sich um arme Menschen und teilten das Evangelium mit den indigenen Bewohner:innen. Unsere erste taiwanische Bibel wurde von Missionaren übersetzt. Dieser Geist prägt unsere Kirche, unsere Pastor:innen und unsere Mitglieder bis heute. Die Presbyterian Church in Taiwan kümmert sich um Menschen am Rande der Gesellschaft und steht den Indigenen zur Seite.

Auch während der Militärdiktatur?

SHOU-HUI CHUNG: Damals wurden die Kirchen unterdrückt. Es war gefährlich, frei über politische Themen zu sprechen. Zu dieser Zeit setzten sich die ausländischen Missionare für die taiwanische Kirche ein; dafür wurden sie auf Schwarze Listen gesetzt. So wurden sie zum Vorbild für die Menschen in Taiwan, sich ebenfalls zu engagieren, für die Menschenrechte, für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Viele Menschen haben gelitten, viele haben gekämpft – und viele gaben ihr Leben für den demokratischen Fortschritt.

Woher kam die Kraft der Kirche während des Kriegsrechts?

SHOU-HUI CHUNG: Die Kraft kam von Gott. Die Presbyterian Church in Taiwan hat während des Kriegsrechts eine wichtige Rolle in der Demokratiebewegung gespielt. Meine Kirche drückte beispielsweise den Familien von Opfer der Diktatur ihr Beileid aus und bot ihre Unterstützung aus. Andere Kirchen dagegen untersagten ihren Gemeinden, über politische Themen zu sprechen.

Welche Rolle spielen Christ:innen heute in der Gesellschaft?

SHOU-HUI CHUNG: Christ:innen in Taiwan arbeiten hart daran, das Evangelium zu verbreiten und sie leisten wichtige soziale Fürsorge! Wir sind nur etwa fünf Prozent Christen, einschließlich Protestanten und Katholiken, eine kleine Minderheit. Aber sie wird wahrgenommen. Ein Beispiel: Christen sind für ihr gutes Benehmen bekannt. Wenn du deine Kinder in die Kirche schickst, werden es brave Kinder, heißt es, denn die Kinder der Kirche benehmen sich immer gut (lacht). Das denken viele Leute, nicht nur die Christen. Sie sagen ihren Kindern: Geh’ jeden Sonntag in die Kirche, geh’ in die Sonntagsschule, geh’ in die christliche Schule. Wir haben eine ausgeprägte christliche Schultradition, von der Grundschule bis zur Universität. Gleichzeitig wollen viele Menschen nicht, dass ihre Kinder getauft werden. Als ich jung war, kannte ich Jugendliche, die sich vor ihren Eltern verstecken mussten, wenn sie in die Kirche gingen. Ihre Eltern folgten dem »Volksglauben«, einer Mischung aus Buddhismus, Taoismus und der konfuzianischen Weltanschauung. Sie praktizieren den Ahnenkult, sie verehren ihre Vorfahren. Das ist sehr wichtig für sie. Sie haben Angst, dass die Kinder nach ihrem Tod nicht mehr die Rituale befolgen. Aber heutzutage sind die Menschen aufgeschlossener. Zum Bespiel spielt Weihnachten im Kalender eine immer größere Rolle. Aber als eine Zeit des Feierns, ohne jeden spirituellen Hintergrund. Anderes Bespiel: Als ich noch ein Kind war, feierten wir nur unser Mondneujahr, aber jetzt feiern wir auch den Silvesterabend. Wir zählen zweimal die Minuten bis zum neuen Jahr!

Wie stark prägt der Konflikt mit China den Alltag in Taiwan? Welche Rolle spielt die Kirche?

SHOU-HUI CHUNG: Seit 1995 heißt es, die Volksrepublik China wolle Taiwan erobern. Aber bisher ist nichts passiert. Nun heißt es, spätestens 2026 wird ein Angriff erfolgen. Ich denke, die Regierung trifft einige Vorbereitungen, zum Beispiel jüngst die Verlängerung der Wehrpflicht für junge Männer von vier auf zwölf Monate. Die Presbyterian Church in Taiwan versucht ihr Bestes, um die Menschen auf den Ernstfall vorzubereiten, sie fördert eine Art Zivilschutz, damit sich die Menschen im Ernstfall selbst helfen können. Es ist gut, auch auf das Unerwartete vorbereitet zu sein. Aber besser ist, keinen Krieg zu führen. Die ganze Welt würde dafür bezahlen. Paulus schrieb: Jesus Christus ist das Haupt, und die Kirche ist der Leib. Das Gleiche kann man über die Welt sagen: Alle Länder sind ein Leib. Wenn ein Teil leidet, egal ob groß oder klein, leiden alle Länder.

Was wünschen Sie sich von deutschen Christ:innen zum Weltgebetstag?

SHOU-HUI CHUNG: Bitte informiert Euch über Taiwan, betet für Taiwan, schließt Partnerschaften mit den Christ:innen Taiwans – und kommt nach Taiwan!

Die ganze WeltBlick zum Herunterladen >>