„Das größte in meinem Leben war, dass ich meine Mutter taufen durfte!“
Stephen Edward Nguvila, Pfarrer in Matamba und zurzeit amtierender Exekutiv-Sekretär der Süd-West-Diözese der Evangelischen Lutherischen Kirche Tansanias, zeigte im Vorüberfahren auf ein Dorf auf dem Hochplateau im Gebiet der Wanji: „Dort bin ich aufgewachsen, dort leben auch noch meine Eltern und Verwandten. Die meisten dort leben noch nach den alten Traditionen.“ „Und du“, fragte ich, Reinhard Kees vom Berliner Missionswerk, zurück, „wenn du aus diesem Dorfe kommst, wann und wie bist du Christ geworden?“
Daraufhin erzählte er mir seine Geschichte. Die ging mir unter die Haut. Dass Pfarrerinnen oder Pfarrer ihre Kinder taufen, das mag wohl oft vorkommen. Aber dass einer seine Eltern taufen kann – das ist eine Missionsgeschichte.
Ich bat Stephen, seine Geschichte aufzuschreiben. Ein paar Tage nach meiner Ankunft war per E-Mail eine Kurzbiographie da, die ich mit Erinnerungen aus unserem lebendigen Gespräch angereichert habe. Hier ist Stephen Nguvilas Lebensgeschichte:
Menschen haben verschiedene Lebenswege. Die Lebenserfahrungen sind unterschiedlich, auch bei Christen. Gott wählt sich seine Diener aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Manche sind in christlichen Elternhäusern groß geworden und christlich erzogen – und werden Pastoren. Andere kommen, so wie ich, aus Familien, die den traditionellen Religionen Afrikas anhängen oder einem anderen Glauben und auch die können Pfarrer werden. Das ist dann genauso Gottes Wille.
Also, ich wurde in einem kleinen Dorf namens Nhungu im Makete-Distrikt in der Iringa-Region geboren. Das war vermutlich am 6. Juni 1966, aber da meine Eltern die Geburt nicht haben offiziell registrieren lassen, ist das nicht ganz sicher. Ich bin das älteste von fünf Geschwistern. Wie gesagt, meine Eltern, meine Großeltern und alle anderen Generationen vorher hingen unserem traditionellen Ahnenglauben an. Sie verehrten die höchste Gottheit durch die Verstorbenen, die Vorfahren. Diese sind sozusagen Vermittler zum allerhöchsten Gott.
Ich habe das als ältester Sohn am eigenen Leibe erfahren. Ich musste mich allerlei religiösen Ritualen unterziehen, besonders in der Erntezeit, wenn wir die erste Ernte dem Höchsten Gott opferten. Das war in unserem Dorf, als es dort noch fast gar keine Christen gab.
Ich mache meinen Eltern daraus keinen Vorwurf. Sie kannten es nicht anders. Sie hatten ja keine Grundschulausbildung genossen, lediglich eine Art Schule unter freiem Himmel – so nennen wir es, wenn man durch das Leben unterrichtet wird.
Ich dagegen durfte von 1975 – 1981 eine Grundschule besuchen, ein enormer Fortschritt. Doch dann reichte das Geld nicht, die Schulausbildung gleich fortzusetzen. Erst nach fünf Jahren harter Arbeit in der Landwirtschaft zu Hause konnte ich 1986 – 1989 meine Ausbildung in der Oberschule fortsetzen. Ich war in Kidugula am Lutherischen Seminar und in Itamba an der Sekundarschule, die ihr vom Berliner Missionswerk unterstützt, beides Schulen der lutherischen Kirche. Die galten als die besten in unserer Gegend. Ich war glücklich, die Prüfung nach der elften Klasse bestanden zu haben und konnte dann die zwölfte und dreizehnte Klasse in einer Regierungsschule in der Nähe von Dodoma absolvieren. Ich hatte mein Abitur, konnte studieren!
Aber erst einmal wurde ich, wie es üblich war, ein Jahr als Soldat eingezogen. Ich diente in der Rukwa-Region.
Zum Christentum kam ich während meiner Grundschulzeit. Unsere Religionslehrer beeindruckten mich, vor allem durch ihre Lebensweise. Die war anders als unsere, wie, kann ich jetzt gar nicht mehr so genau sagen. Weißt du, das Leben, das ist doch das, was die anderen am meisten mitbekommen, was eben überzeugen kann, wenn es mit dem, was sie lehren übereinstimmt. Ihr Leben und ihr Unterricht waren es, die mir den Weg zum Glauben an Jesus als meinen Herrn bahnten.
Schließlich am Ende der Grundschulzeit – Ende der 7. Klasse – bat ich meine Eltern um die Erlaubnis, mich zum Christentum bekehren zu dürfen. Sie waren nicht begeistert, aber immerhin gestanden sie es mir zu: „Du hast eine Ausbildung. Du musst wissen was du tust. Du bist alt genug, es selbst zu entscheiden.“ So viel Verständnis erntete ich bei den Verwandten nicht. Viele versuchten, meinen Eltern ihre Toleranz auszureden. Aber sie blieben bei dem, was sie gesagt hatten. So nahm ich Taufunterricht und wurde noch im gleichen Jahr, 1984, getauft. Damit war ich der erste Christ in meiner Familie. Meine Taufe führte etwas später dazu, dass sich auch meine Geschwister taufen ließen. Aber meine Eltern blieben noch viele Jahre lang in ihrer Tradition.
Am 14. Juni 1992 heiratete ich Luciana. Sie stammte wie ich aus Nhungu. Das war noch vor dem Militärdienst. Aber was dann kam, war schlimm: Vier Jahre lang blieben wir kinderlos. Das war eine Schande. Andere sagten, das sei die Strafe der Ahnen, dafür, dass wir Christen geworden waren. Unsere Eltern machten Druck: Nur ein traditioneller Heiler könne helfen. Wir sollten zurückkommen in den Schoß der Ahnen. Nur dann könnten wir Kinder bekommen. Wir widerstanden. Wir wollten doch keinen Schritt zurück gehen. Wir haben damals viel gebetet, waren aber, ehrlich gesagt, auch manchmal sehr verzweifelt. Sollte der Heiler doch stärker sein als unser Gott, der über allem ist? Könnte der Heiler uns doch verhext haben? Seit ich mich hatte taufen lassen, hatte er nicht mehr mit mir gesprochen. Aber einmal war er zu mir gekommen und hatte gesagt: Ich kriege Dich!
Dann endlich, durch Gottes Hilfe, wurde der Schoß meiner Frau geöffnet und sie wurde schwanger und konnte nacheinander vier Kindern das Leben schenken. Es sind drei Jungen: Agape (Liebe), Godgiven (Gottgegeben), Victor (Sieger) und ein Mädchen namens Atunosyaghe. Gott hatte sich als stärker erwiesen.
Meine Berufung zum besonderen Dienst für Gott spürte ich während der Zeit in der Armee. Die Entscheidung, Pfarrer zu werden, war damals für mich als junger Mann mit diesem armen familiären Hintergrund und bei dieser guten Qualifikation, die mir ganz andere Chancen bot, sehr schwierig. Das war, als würde ich – trotz der guten Ausbildung – freiwillig weiterhin arm bleiben wollen. Das war ein harter Kampf in mir. Ich war meinen Eltern ja auch etwas schuldig.
Als ich meinen Entschluss meinen Freunden und meiner Verwandtschaft mitteilte, waren sie alle total dagegen. Sie sagten: „Dein Vater hat so viel in deine Ausbildung investiert, und du willst ein Pfarrer werden – Nein!“ Aber ihre Argumente überzeugten mich nicht. Ich ließ mich von meinem Entschluss nicht abbringen. In mir brannte der sehnlichste Wunsch, dem Herrn zu dienen. Also schrieb ich meinen Eltern einen Brief, in dem ich sie um Erlaubnis bat, Pfarrer werden zu dürfen. Und – wie damals – das Wunder geschah: Sie willigten ein. Ich hatte Frieden im Herzen.
Ich bewarb mich bei der Diözese. Würden sie mich bei meinem familiären Hintergrund nehmen? Die Antwort war positiv: Die Diözese schickte mich mit einem Stipendium zum Studium an die Lutherische Theologische Hochschule von Makumira bei Arusha. Mein Abitur ermöglichte es mir, sofort mit dem Studium zu beginnen. Ich brauchte keine Aufnahmeprüfung zu machen. Dort studierte ich also von 1993 bis 1998 und erwarb den Bachelor der Theologie (BA).
Am 29. November 1998 wurde ich dann in der Lutherischen Kirche in Matamba, wo ich jetzt Pfarrer bin, ordiniert. Ich war am Ziel. Ich war dem Ruf Gottes gefolgt, allein aus innerer Überzeugung – nicht durch äußeren Einfluss. Aber, dieser Ruf hatte mich von meinen Eltern getrennt. Ich war ihnen noch etwas schuldig. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich für sie sorgen kann, und dass ich es auch tue, auch wenn sie weiterhin in ihrem traditionellen Glauben bleiben. Mit großer finanzieller Anstrengung habe ich ihnen in Nhungu ein neues Haus gebaut. Das hat damals viele in unserem Dorf beeindruckt. Denn viele meiner Generation, die auch gut ausgebildet waren und nun in Daressalam oder anderswo Geld verdienten – sicher sogar mehr als ich – die haben es nicht getan. Die haben ihre alten Eltern vergessen. Ich baute meinen ein Haus. Die Leute fragten: Warum tut er das?
Nach meiner Ordination arbeitete ich neun Monate in der Gemeinde Ng’onde im nordöstlichen Teil der Diözese und später in einer anderen Gemeinde im selben Bezirk. Neben meiner Arbeit als Gemeindepfarrer wurde ich auch zum Jugendpfarrer der Diözese ernannt. Nach nur elf Monaten erhielt ich dann das unwahrscheinlich große Angebot, mich weiter qualifizieren zu können und das Master-Studium an der Makumira-Hochschule anzutreten. 2002 schloss ich es mit dem Master-Diplom ab. Danach nahm ich meine Arbeit als Gemeindepfarrer wieder auf und wurde Ortspfarrer von Matamba, wo ich noch heute bin, und gleichzeitig Superintendent des Distrikts. 2007 übertrug mir die Diözese eine weitere Aufgabe. Ich wurde Koordinator des HIV/AIDS-Aufklärungsprogramms und schließlich 2008 amtierender Exekutiv-Sekretär der Diözese.
Als Pfarrer in einer ländlichen Region braucht man viel Mut und Durchhaltevermögen, denn der Lohn ist gering. Normalerweise bekommt ein Pfarrer umgerechnet knapp über 10 Euro pro Monat – abhängig von den monatlichen Sammlungen der Gemeinde. In der Diözese sind die Gehälter der Pfarrer ein großes Problem. Wir haben ja keine urbanen Zentren, wie andere Diözesen. Die meisten Menschen hier sind Bauern und haben selber kaum ein Einkommen. Auch die Ausbildung der Kinder ist sehr teuer in Tansania. Im Ruhestand erhalten viele Pfarrer kein Geld oder eine entsprechende Unterkunft. Aber wir lassen uns von diesen Problemen nicht entmutigen und üben im Vertrauen auf Gott unseren Dienst aus.
Aber eins – vielleicht das am meisten Beeindruckende in meinem Leben – will ich noch erzählen. Was mir doch ein Stachel im Fleisch war, war die Tatsache, dass meine Eltern immer noch dem traditionellen Ahnen-Glauben anhingen, auch als ich schon längst Pastor war. Wir hatten damals viele tiefe Gespräche, wenn ich Zeit hatte, bei ihnen vorbeizuschauen. Wie gut, dass Matamba nicht so weit weg war! Sie waren neugierig geworden und fragten viel, wenn Gelegenheit dazu war. Als dann schließlich 2004 mein Vater zu mir kam und darum bat, getauft zu werden, war meine Freude riesig groß. Ich, der Sohn, taufte ihn, meinen Vater, und zwar am Weihnachtstag 2004. Drei Jahre dauerte es dann noch – viele Gebete, viele Gespräche – bis auch meine Mutter getauft werden wollte. Ich, der Sohn, taufte sie, meine Mutter, auch am 25. Dezember. Weißt du, was das für eine unendliche Freude ist, wenn man die eigene Mutter taufen darf. Gottes Wege sind phantastisch! Ja, so kann man sagen: „Die Eltern haben mir physisch das Leben geschenkt, und ich, der Sohn, habe sie, die Eltern, zur geistlichen Wiedergeburt bringen dürfen. Kurz danach kam der Dorfheiler zu mir und sagte: Dein Gott ist doch stärker – ich konnte dich nicht kriegen!
Der 25. Dezember jedenfalls ist jedes Jahr für unsere Familie ein großes Fest, da seitdem nun alle Mitglieder meiner Familie Christen sind. Gott sei Dank!
Stephen Edward Nguvila, September 2009
Übersetzung und Bearbeitung: Reinhard Kees und Almut Nothnagle