Predigtgedanken zur Christnacht, Lukas 2,1-20
Von Pfarrer Dr. Simon Kuntze, Nahostreferent des Berliner Missionswerkes
Beit Sahour ist eine kleine freundliche Stadt in der Westbank, nahe Bethlehem. Die Menschen dort meinen, dass dies der Ort gewesen sei, wo die Hirten ihre Schafe hüteten, als ihnen des Nachts die Engel begegneten. Freilich, ganz einig sind sich die regionalen Christen nicht über die genaue Verortung, so dass sich zwei Felder finden, eines katholisch, eines orthodox. Die Hirten im Himmel werden drüber lächeln; sie waren Juden, die den Messias erwarteten, und nicht damit rechneten, dass aus der Friedensbotschaft auf Erden eine neue Religion und religiöser Geschwisterstreit erwachsen würde. Doch menschliche Sünde nimmt beizeiten auch Gutes zum Anlass, um Elend zu wirken.
„Sahour“, das heißt Nachtruhe, und bezieht sich eben auf diese nächtliche Zusammenkunft von Menschen und Himmelswesen unter dem Sternenhimmel. Heute gibt es dort noch eine große christliche Gemeinde, die meisten Christen sind orthodox, manche katholisch, einige wenige lutherisch. Die Christen Beit Sahours sind stolz auf ihre Geschichte, und dass sie ihre christliche Tradition gegen manche Widerstände hochhalten. In den letzten Jahren sind viele Christen aus der Westbank emigriert; sie leiden wie alle anderen Palästinenser unter der Besatzungs- und Konfliktsituation in den palästinensischen Gebieten, und auch unter dem gesellschaftlichen Druck, der auf ihnen als Christen lastet. In den palästinensischen Schulbüchern kommen Christen in erster Linie als „Faranji“ vor, als „Franken“, Kreuzfahrer also, die nicht wirklich zum Land gehören, sondern mit Gewalt das Land eroberten. Die Christen erinnern gegen diese Darstellung gerne daran: bevor die Muslime und die Kreuzfahrer kamen und das Land eroberten, waren wir schon hier.
Doch wie gesagt: die Hirten, die den Engeln damals lauschten, waren keine orthodoxen oder katholischen Christen, sondern aus dem Volke Israel, die etwas mit der Botschaft vom Frieden und der Ehre Gottes anfangen konnten. Sie lebten unter römischer Herrschaft und verstanden die Worte der Engel wohl durchaus politisch: als „verkündeter Retter“ galt den Leuten damals der römische Kaiser Augustus, der der Welt die Pax Romana oder Pax Augusta gebracht hatte. Wenn nun sein Engel einen anderen Frieden verkündet, als den, der schon war – was dann?
Merkwürdig, dass die Figuren in diesem göttlichen Theater die Geschichte, bei der sie mitspielen, nicht merkwürdig finden: statt Augustus wird hier ein Kind zum Friedensbringer erhoben, das selber unter der Herrschaft eben dieses Kaisers steht. Seine Eltern haben dem Gebot des Kaiser Augustus gehorcht, sind in ihre alte Heimat gezogen, und fanden dort „keinen Raum in der Herberge“ mehr. Unscheinbar ist das Ereignis: kein Zepter und keine Krone, kein kindliches Wunderwirken, sondern Windeln und Krippe sind die Zeichen, die die Hirten überzeugen: das ist euer Retter und Herrscher! Keinen Ort findet dieses Kind in der Welt als im schmutzigen Viehstall. Niemand nimmt von diesem Weltereignis, nach dem wir bis heute in unseren Breiten unsere Jahre zählen, Notiz – bis auf ein paar ärmliche Nachtgestalten, und ein erschöpftes junges Paar. Wer hätte einen Schekel drauf gewettet, dass 2023 Jahre nach diesem Ereignis die Geschichte dieses Kindes weitererzählt wird, und nicht das große politische Wirken des Augustus?
Merkwürdig auch, dass in dieser wohl bekanntesten Geschichte der Weltchristenheit der Name Jesu nicht auftaucht, und das „Kind“, um das sich die Geschichte dreht, erst ganz zum Schluss auftaucht und - nichts macht. Merkwürdig, dass niemand spricht in diesem Dramolett, bis die Engel ihren Lobgesang ertönen lassen. Der Engelsgesang scheint die Hirten zu Boten zu machen; sie sprechen untereinander von dem Ereignis, sie breiten die Geschichte aus, sie loben Gott. Merkwürdig auch – in diesen Tagen Weihnachten in Bethlehem und Beit Sahour zu feiern, und den Frieden Gottes zu verkünden und den Krieg vor Augen zu haben.
Wie in diesem Jahr des Herrn 2023 diese Geschichte ausbreiten, wie Gott preisen? In Beit Sahour und Umgebung geschieht dies sehr still. Die üblichen Weihnachtsbräuche in den christlichen Städten in Bethlehem, Beit Sahour, Ramallah, Beit Jala, auch in Jerusalem, sind abgesagt. Die palästinensischen Christen wollen die Geburt Christi verkünden; aber nicht den Eindruck erwecken, als würden sie feiern, während so viele Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft im Krieg sterben. Und vielen von ihnen ist wohl auch nicht recht zum Feiern zu Mute. Viele haben Angehörige verloren. Viele haben Angst. Vielen fehlt eine Perspektive: „Wenn ich an das kommende Jahr denke, befürchte ich, dass sich die Situation nur noch weiter verschlimmern wird. Der Hass in den Herzen der Menschen wächst, und wenn der Krieg beendet ist, wird er stärker sein als je zuvor. Brücken des Friedens wurden eingerissen.” Erzählt Ashraf Tannous, lutherischer Pfarrer in Beit Jala, und bittet „Gott, dass er mir Worte schenkt, die in dieser hoffnungslosen Zeit Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit schenken können“. Er selber hat diese Worte gerade nicht. Sie wachsen ihm nicht zu aus der Erfahrung oder aus dem Optimismus zu, dass „alles schon gut werden wird“.
Das ist wohl die Größe dieser Geschichte, die vor mehr als 2000 Jahren in Bethlehem und Beit Sahour oder nebendran zur Aufführung kam und bis heute weiter erzählt wird: dass sie offenlegt, was wirklich war und sein wird. Dass sie die Mächtigen und Gewaltigen, und auch uns, ob wir es nun gut oder böse meinen, einbindet in das göttliche Geschehen, das so unsichtbar, und doch so viel wirkmächtiger ist als das kraftvoll-menschlich-auftrumpfende. Denn, bei Gott, wir feiern im Dezember nicht die Pax Romana, sondern die Geburt Jesu Christi. Bewegen die Worte der Hirten und Engel im Herzen wie Maria. Und sind gewiss, dass Gott Wunder wirkt, wo wir Windeln und Stroh sehen, und Frieden schafft, wo wir Krieg führen.
Die Geschichte vom Jesuskind in Bethlehem - ein Pfeifen im dunklen Walde? Mag sein (und was wär schlecht dran?) … Die Erzählung aber auch von Gottes wahrem Wort, das die Welt verändert? Ich glaube, ja.