Trauer um Ernst Tugendhat

Ernst Tugendhat (re.) besuchte 2006 Talitha Kumi.

Talitha Kumi beeindruckte Ernst Tugendhat

Am 13. März 2023 starb der Philosoph Ernst Tugendhat im Alter von 93 Jahren. 2005 spendete er ein hohes Preisgeld an Talitha Kumi. Der ehemalige Schulleiter Talitha Kumis, Dr. Georg Dürr und seine Frau Ute Agustyniak-Dürr erinnern sich.

Ernst Tugendhat, der Sohn einer jüdischen Familie, verbrachte seine ersten Lebensjahre im tschechischen Brünn, ehe er mit der Familie 1938 über die Schweiz nach Venezuela emigrierte, begleitet von Berichten über unzählige ermordeter Juden, darunter enge Verwandte und Freunde.

Schon früh interessierte Tugendhat sich für Philosophie. Mit 15 Jahren las er Heideggers Werk „Sein und Zeit“. Er promovierte, habilitierte sich und wurde bald Professor in Heidelberg, später Berlin und hatte darüber hinaus weltweit Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Er wendete sich von der traditionellen zur sprachanalytischen Philosophie. Ihn beschäftigten Probleme der Sprache, der Ethik, der Politik.
Ein feines Gespür für Gerechtigkeit, für Zwischentöne, eine hohe Sensibilität für das Gebotene waren seine Motivation für seinen Einsatz für den Frieden, für ein liberales Asylrecht und für seinen Vorsitz bei der „Gesellschaft für bedrohte Völker“.

Einsatz für Palästinenser

Schon früh setzte er sich für die Palästinenser und Palästinenserinnen ein. Er wollte auf ihre Situation aufmerksam machen und einen Beitrag zur Verbesserung ihrer Lage leisten.
Und hier kam Ernst Tugendhat mit Talitha Kumi in Kontakt. Er wollte das Preisgeld, das er 2005 für den Meister-Eckart-Preis erhalten hat – 50.000 Euro – gänzlich für Palästina spenden. Dafür suchte er ein Projekt, wo dieses Geld gut angelegt ist und so wirken kann, wie er es sich erhoffte: dem Aufbau Palästina dienend. Er schaute sich einige Friedensprojekte an, verwarf sie aber wieder, weil sie ihm zu kurz griffen und ihm angesichts der israelischen Politik nicht nachhaltig genug erschienen. Und so stieß er auf Talitha Kumi, eine Schule, deren Bildungsarbeit für junge Menschen ihm imponierte. Und er entschloss sich, sein Preisgeld der Schule zur Verfügung zu stellen.

Im Sommer danach habe ich als damaliger Schulleiter von Talitha Kumi mit Ernst Tugendhat Kontakt aufgenommen  und ihn in seiner damaligen Wohnung im Zentrum Tübingens besucht, um mich persönlich für die Spende zu bedanken. Er reichte mir eine Tasse Tee inmitten eines beeindruckenden Ambientes aus vielen Büchern und einer alten Schreibmaschine auf dem Tisch. Vom Platz vor der Stiftskirche drang der Klang fröhlichen Treibens nach oben in seine Wohnung im ersten Obergeschoss. Ernst Tugendhat legte mir eine Schrift über Religion und Ethik auf den Tisch, die er vor einigen Jahren verfasst hatte. Darin, so Tugendhat, habe er die Religion weit nach hinten verschoben, er trage sich mit dem Gedanken, die Schrift zu überarbeiten und der Religion einen Platz weiter vorn einzuräumen.

Und dann tat Ernst Tugendhat das, was ihn in seinen Gesprächen grundsätzlich auszeichnete: Er stellte Fragen, hörte genau und aufmerksam zu, ließ das Gesagte wirken. Für ihn war es besonders wichtig zu erfahren, wo sein Geld eingesetzt worden war. Mit seiner Spende wollte er vor allem palästinensischen Kindern den Schulbesuch in Talitha Kumi ermöglichen, die in Flüchtlingslagern lebten. Weil dies aber nicht eins zu eins umsetzbar war, lud ich ihn spontan für eine Woche nach Talitha Kumi ein, damit er sich selbst einen Eindruck davon machen kann, wo und wie sein Geld wirksam geworden ist. Nach zwei Tagen Bedenkzeit rief er mich an und sagte zu: Er werde allein kommen und wolle die Schule kennen lernen.

Ernst Tugendhat besucht Talitha Kumi

Ich holte ihn am Flughafen in Tel Aviv ab, und er bezog ein Zimmer im Gästehaus. Im Kollegium stellte ich ihn als einen Freund der Schule vor, der viel Geld für unsere Arbeit gespendet hätte, so auch bei den Treffen in zwei verschiedenen Flüchtlingslagern in der Region Bethlehem. Er stellte mich daraufhin zur Rede und sagte: „Sie stellen mich immer als einen Freund der Schule vor, aber Sie müssen mich nicht schützen. Ich stamme aus einen jüdischen Familie! Und ich will auch so vorgestellt werden: als ein Jude, der nicht einverstanden ist mit der Politik Israels. Die Leute hier sollen wissen, dass es auch Menschen jüdischer Herkunft gibt, die Palästinenser unterstützen.“ Und so machte ich es in Zukunft bei unseren anderen Unternehmungen: Am Grab Arafats etwa stellte ich ihn vor als einen Juden, der mit der Siedlungspolitik und der Landnahme durch Israel nicht einverstanden ist.

Eine Kollegin begleitete ihn nach Hebron zum Grab Abrahams. Dort musste man sich in zwei verschiedenen Schlangen anstellen: Eine Schlange für Palästinenser, eine für Touristen aus anderen Ländern. Er schaute sich das kurz an und sagte dann, ohne beim Abrahams-Grab gewesen zu sein: „Danke. Ich habe genug gesehen. Wir können zurück fahren.“ Emotionsarm, ohne weitere Erklärungen und Worte, aber so klar, dass niemand versucht hätte, ihn umstimmen. Abends kam Professor Tugendhat immer zu einem Glas Wein zu uns nach Hause, es gab einen Imbiss und die Gespräche rankten sich um das, was am Tag geschehen war. Dabei war er wortarm und spröde in dem, was er äußerte. Anders beim Philosophieren: Das war der Ort, wo er spürbar zu Hause war.

Eines Abends kam ein evangelischer Theologieprofessor mit seiner Begleiterin dazu, weil er Tugendhat kennenlernen wollte. Es wurde ein Abend des Theologisierens und Philosophierens, in der Tugendhat allein durch die Weise überzeugte, wie er gut zuhörend Fragen zu dem stellte, was der andere sagte. Durch Fragen ließ er den anderen die Schwachstellen seiner Argumentation selbst entdecken. Keineswegs arrogant, eher Anteil nehmend und sensibel. Als die Begleiterin des Theologen wahrnahm, dass dieser sich immer mehr in Rage redete und dabei immer weniger überzeugte, versuchte sie, der Diskussion einen Schlusspunkt zu setzen: Der Professor müsse jetzt ins Bett. Freundlich fragte Tugendhat, ob dieser das denn nicht selbst bestimmen könne. Sie sagte, sie sei schließlich für ihn verantwortlich, und fügte hinzu, dass man gewissermaßen für alle Menschen verantwortlich sei. „Wirklich für jeden?“, fragte Tugendhat nachdenklich. „Ist das nicht ein bisschen viel?“

Am nächsten Morgen traf ich den Theologieprofessor auf dem Weg ins Schulgebäude. Er sprach mich gleich an und teilte mir mit, wie anstrengend doch dieser Abend für ihn gewesen war und wie schwierig Professor Tugendhat. Das tat mir aufrichtig leid. Einige Meter weiter saß Tugendhat im Gästehaus beim Frühstück und ich wünschte ihm einen guten Morgen. Er bedankte sich bei mir für den anregenden Abend und betonte, wie ausgesprochen nett und herzlich doch dieser Theologieprofessor gewesen sei! In einem späteren Brief an meine Frau und mich schrieb Tugenthat, dass er ihn  einige Wochen später in Deutschland angerufen habe, um den netten Kontakt nicht abreißen zu lassen, was von dem Theologieprofessor dann wirklich geschätzt wurde.

Die Begegnung mit Ernst Tugendhat hat uns weit über die Dankbarkeit für seine großzügige Spende hinaus erfüllt. Er trat bescheiden auf und war niemand, der auf Anerkennung und Bewunderung Wert legte: Äußerungen dieser Art wies er beinahe schroff zurück. Die Spende des ihm verliehenen Meister-Eckart-Preises verstand er eher als einen selbstverständlichen Beitrag zur Gerechtigkeit.

In einem Brief am 12. Januar 2008 schrieb er: „Es hat mich überaus befriedigt zu sehen, wie gut das Geld von meinem Preis verwendet wurde. Das ist wirklich eine so sinnvolle Sache, so düster auch weiterhin der palästinensische Gesamtprospekt erscheint.“