Herber Rückschlag für die Friedensarbeit

Dr. Simon Kuntze ©Gerd Herzog

"Was gibt es denn für eine andere Wahl, als für eine friedlichere Zukunft zu arbeiten?"

Für das Berliner Missionswerk sind jedes Jahr viele Freiwillige in den palästinensischen Gebieten, um dort in Projekten des Werks zu arbeiten. Auch sie wurden von den Terroranschlägen am 7. Oktober überrascht. Im Interview mit Karola Kallweit von der Evangelischen Zeitung spricht Pfarrer Dr. Simon Kuntze, Geschäftsführer des Jerusalemsvereins und Nahost-Referent des Berliner Missionswerkes, über die aktuelle Situation vor Ort und die Möglichkeit von Frieden in der Region.

Herr Kuntze, wo hat das Berliner Missionswerk Freiwillige in den palästinensischen Gebieten?

Simon Kuntze: Das Berliner Missionswerk entsendet ja in viele Länder, aber die meisten unserer Freiwilligen sind in der Westbank in den palästinensischen Gebieten und in Jerusalem. Wir haben Freiwillige in der Ost-Jerusalemer Gemeinde unserer Partnerkirche, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL); in einer Schule unserer Partnerkirche in Beit Sahour, einem kleinen Ort bei Bethlehem – übrigens der Ort, von dem die Menschen sagen: Hier begegneten die Hirten den Engeln, die den Christus verkündeten. Wir haben in der Regel zwei, in diesem Jahr aber nur eine Freiwillige von „Brass for Peace“ – sie machen Bläsermusik mit Schülerinnen der Evangelischen Schule Talitha Kumi und der Schulen unserer Partnerkirchen und organisieren Auftritte.

Talitha Kumi ist eines Ihrer größeren Projekte.

Ja, die meisten unserer Freiwilligen arbeiten auf dem Schulcampus in Talitha Kumi – in der Schule, im Kindergarten, im Umweltprojekt, in einem Mädchenprojekt. In diesem Jahr waren insgesamt neun Freiwillige in der Westbank und in Jerusalem. Es war ein paar Tage lang unklar, ob es das Beste ist, sie dort zu lassen – sie fühlten sich an ihren Orten auch ziemlich sicher, obwohl die Raketen der Hamas auch Richtung Jerusalem und Beit Jala flogen. Aber am Dienstagabend nach dem Terrorangriff, dem 10. Oktober, war klar, dass wir sie dort rausholen sollten. Es war eine Woche lang eine sehr unsichere und belastende Situation – für die Freiwilligen, für die Menschen, die sie dort kennengelernt haben, natürlich für die Familien und auch für uns hier. Wir waren dann sehr froh und erleichtert, als sie alle sicher in Deutschland gelandet waren.

Zurück in Deutschland, wie geht es den Freiwilligen mit dem Erlebten?

Sie brauchen noch eine Weile, um hier richtig anzukommen. Wir haben sie regelmäßig über den Videochat gesprochen, und in dieser Woche sind sie zu einem Seminar und Treffen hier, um über das Erlebte zu sprechen. Sie haben sehr schnell einen Ort verlassen, an dem sie sich eingelebt haben. Die Menschen dort haben sie gut kennengelernt. Sie haben dort einen Kriegsausbruch erlebt und wussten lange nicht, was geschehen wird. Sie werden professionell und psychologisch begleitet. Wir sind in sehr engem Kontakt zu ihnen, auch um die Frage zu klären, wie es jetzt weitergeht.

Wie ist die Situation nun vor Ort in Talitha Kumi?

Die deutschen Lehrerinnen sind ausgereist. Sie führen den Unterricht über das Internet fort. Die palästinensischen Lehrer:innen sind vor Ort. An der Schule gibt es aktuell Hybrid-Unterricht. Die Schülerinnen aus der Umgebung, die kommen wollen, werden in der Schule unterrichtet. Wer sich sorgt, seine Wohnung zu verlassen, oder nicht zur Schule kommen kann wegen der Einschränkungen, kann über das Internet am Unterricht teilnehmen. Die Schule ist durch die Coronazeit gut vorbereitet auf so eine Situation. Insofern lässt sich manches ganz gut organisieren. Ich mache mir aber Sorgen wegen der Situation der Kinder und Schüler:innen.  In Israel, im Westjordanland, im Gazastreifen wird gerade eine weitere Generation traumatisiert durch die Gewalt und den Krieg. Kinder leiden unter den Auswirkungen von Bedrohung und Gewalt. Das wird uns noch lange beschäftigen.

Können Sie ein Stimmungsbild geben, wie es den Christinnen und Christen im Heiligen Land aktuell geht?

Viele Christen in der Westbank haben Angst vor den Raketen. Manche fürchten sich davor, dass es zu Kämpfen kommt zwischen jüdischen und arabischen Bewohnern der Westbank, auch zu Vergeltungsschlägen, und gehen nicht mehr aus dem Haus. In der Westbank gibt es gerade ständig Schießereien und Gewaltakte. Die Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Es wird auch zu Teuerungen kommen und so wird sich die soziale Lage verschärfen. Die Erlöserkirche lädt zu Friedensgebeten ein. Die ELCJHL hat sich in Statements zur Situation geäußert. Es gibt auch Enttäuschung darüber, dass „die“ Theologen aus dem Westen die palästinensischen Christen nicht verstehen und zu sehr für Israel Position beziehen.

Bereits kurz nach den Anschlägen vom 7. Oktober äußerten sich die ELCJHL und Vertreter, darunter die palästinensische Pfarrerin Sally Azar, die ihr Vikariat in der EKBO gemacht hat, relativierend zu den Ereignissen. In einem Statement der ELCJHL heißt es beispielsweise, der Krieg in Gaza sei ein „Symptom eines Volkes, das durch extensive und systematische Gewalt und Unterdrückung tief verwundet ist“. Dafür gab es Kritik. Wie steht das Missionswerk zu den Äußerungen?

Ich hätte in dem Statement der ELCJHL zum 7. Oktober auch gerne gelesen, dass die ELCJHL den Terror der Hamas verurteilt und um die toten israelischen Zivilisten trauert. Ziel der Hamas ist es, Israel auszulöschen. Dagegen muss man sich auch klar aussprechen. Dieses Statement hätte also, denke ich, ein stärkeres Zeichen gegen den Hass und für den Frieden werden können. Aber wir können nicht für die ELCJHL sprechen. Wir im Berliner Missionswerk verurteilen das Terrormassaker der Hamas einhellig. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, auch nicht im Blick auf die politische Situation. Die ELCJHL bleibt allerdings ein wichtiger Partner für uns in dieser Region, und wir bleiben im Gespräch. Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir zu verstehen versuchen, warum wir handeln und reden, wie wir es tun. Auch das ist Arbeit für Frieden und Versöhnung.

Auch im Gazastreifen leben Christinnen und Christen. Haben Sie Informationen über deren Situation?

Es gibt eine kleine christliche Gemeinde. Sie ist natürlich auch von den Angriffen des israelischen Militärs betroffen. Eine griechisch-orthodoxe Kirche wurde zerstört und 17 Gemeindeglieder starben dabei. Auch Angehörige von Mitarbeitenden Talitha Kumis sind dabei gestorben. Insofern geht uns das recht nahe.

Was bedeuten die Terroranschläge und der aktuelle Krieg für den Friedensprozess in Nahost und für den interreligiösen Dialog in der Region?

Es gibt immer noch Leute in Israel und Palästina, die festhalten an der Vision, dass die Menschen in dieser Region – ob nun Juden, Christen, Muslime, Bahai, Buddhisten, ob Israelis oder Palästinenser – dort friedlich zusammen leben müssen und auch leben werden. Menschen wie Anton Goodman von „Rabbis for Human Rights“, der nach den Anschlägen der Hamas zum interreligiösen Friedensgebet eingeladen hatte. Oder die Frauen von „Women Wage Peace“ und „Women of the Sun“, einer israelischen und einer palästinensischen Friedensinitiative – auch von „Women Wage Peace“ ist eine Frau am 7. Oktober entführt oder getötet worden. Die israelische Organisation „Women Wage Peace“ fordert eine neue Friedenspolitik der israelischen Regierung. Solche Menschen sind für mich gerade die Realisten. Was gibt es denn für eine andere Wahl, als für eine friedlichere Zukunft zu arbeiten?

Und was kann das Missionswerk hier unternehmen?

Am Freitag, 27. Oktober, hatten wir die Friedensinitiative „Combatants for Peace“ bei uns zu Besuch. Der palästinensische Friedensaktivist Osama Eliwat und der israelische Friedensaktivist Rotem Levin sprachen über ihre Arbeit für die Initiative und natürlich auch über die aktuelle Situation. Ich bin froh, dass die beiden heil hierher nach Deutschland gekommen sind. Solche Gespräche sind gerade sehr wichtig. Denn bei aller Zuversicht, dass es irgendwann zu einem Frieden kommt: Die Konfliktlinien werden gerade neu gezogen und der Ton wird sehr viel schärfer. Das Verständnis für andere nimmt ab. Auch hier in Deutschland.

Am Sonntag, 5. November, 10 Uhr, predigt Pfarrer Simon Kuntze in der Erlöserkirche Potsdam in einem Spendengottesdienst für Talitha Kumi. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zum Gespräch.

Das Interview erschien zuerst in der Evangelischen Zeitung vom 30. Oktober 2023: www.evangelische-zeitung.de